Der folgende Beitrag von Dr. Anatolij Podolsky vom Ukrainischen Zentrum für Holocaust-Studien (Kyjiw) zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa richtet den Blick auf die historischen Zusammenhänge sowie die Situation der Überlebenden der NS-Verfolgung in der Ukraine im andauernden russischen Angriffskrieg.
Dr. Anatoly Podolsky leitet das Ukrainische Zentrum für Holocaust-Studien und ist ein enger Partner des Hilfsnetzwerks.

80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa
Die Ukraine kämpft gegen die russische Aggression
Ein bedeutendes Datum liegt gerade hinter uns: der 11. April – der Internationale Tag der Befreiung der Häftlinge aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Ein weiteres steht bevor: der 8. Mai – der Tag des Sieges über den Nationalsozialismus und das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa.
Doch erneut herrscht Krieg auf dem europäischen Kontinent. Die internationale Gemeinschaft hat die Lehren des vergangenen Krieges nicht vollständig verinnerlicht. Während die schrecklichen Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes verurteilt wurden, blieb eine ebenso entschlossene Aufarbeitung und Verurteilung der Verbrechen des kommunistischen Totalitarismus aus.

Mitglieder der “Ukrainische Union der Häftlinge — Opfer des Nationalsozialismus (USVZhN)” beim Gedenken zum 11. April in Mykolajiw.
Wieder tobt Krieg in Europa
Wieder tobt Krieg in Europa. Die Russische Föderation begann bereits 2014 einen aggressiven Krieg gegen die Ukraine, indem sie gegen alle Regeln des Völkerrechts verstieß und einen Teil der ukrainischen Territorien besetzte – die Halbinsel Krim sowie Teile der Regionen Donezk und Luhansk im Osten des Landes. Am 24. Februar 2022 begann Russland seine groß angelegte Invasion der Ukraine. Seitdem führt das Land einen umfassenden Angriffskrieg, bei dem Städte und Dörfer zerstört und unzählige Zivilist:innen getötet und Kriegsverbrechen begangen wurden. Ziel dieser Aggression ist die systematische Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit, Kultur und Identität durch das Regime Putins.
Überlebende der NS-Verbrechen erneut mit einem Krieg konfrontiert
In diesem russischen Krieg gegen die Ukraine leiden auch die Überlebenden der NS-Verbrechen, die bereits den Zweiten Weltkrieg, die nationalsozialistischen Ghettos und Lager überlebt haben. Es sind hochbetagte Menschen, manche über 90, fast 100 Jahre alt – Menschen, die während der deutschen Besatzung der ukrainischen Gebiete Kinder oder junge Erwachsene waren und die Verbrechen des Nationalsozialismus miterlebt haben. Doch keiner von ihnen hätte je gedacht, dass sie erneut die Verbrechen eines heutigen verbrecherischen russischen Regimes durchleben müssten – und manche von ihnen es nicht überleben würden. Dass sie unter russischen Raketen- und Bombenangriffen leiden und nach der nationalsozialistischen nun auch eine russische Besatzung erfahren würden.
Es sind ehemalige KZ-Häftlinge, ukrainische Juden und Jüdinnen, die die Ghettos überlebten, und Ukrainer:innen – Gerechte unter den Völkern –, die Juden und Jüdinnen vor dem Holocaust retteten. Sie lebten in verschiedenen Städten der Ukraine, die russischen Raketenangriffen ausgesetzt waren, sich an der Frontlinie befanden oder unter russischer Besatzung standen: Kyjiw, Charkiw, Cherson, Mykolajiw, Mariupol, Dnipro, Krywyj Rih, Odesa und andere.
So starb der Gerechte unter den Völkern, Oleksandr Slobodjanyk aus der Region Cherson, im Alter von 94 Jahren als Flüchtling in Lubny (Region Poltawa). Sein Herz hielt den russischen Luftangriffen und der Artillerie nicht mehr stand. Wanda Objedkowa – eine ukrainische Jüdin aus Mariupol, die 1941 die Erschießungen der Juden ihrer Stadt durch die Nazis überlebt hatte – starb in einem Keller eines Hauses in Mariupol während der russischen Belagerung der Stadt.
Hilfe für NS-Überlebende im Krieg
Dank des Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine erhalten viele Opfer der NS-Verbrechen Hilfe während des russischen Krieges in der Ukraine – wir schätzen das sehr und werden es nie vergessen. Darunter die Kyjiwerinnen Anastasia Gulej und Nadija Slesarewa (inzwischen verstorben, gestorben im Dezember 2023 in Berlin), beide ehemalige Häftlinge nationalsozialistischer Konzentrationslager, denen zu Beginn der großangelegten russischen Invasion 2022 geholfen wurde, nach Deutschland zu fliehen.
Anastasia Gulej sagte nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine, nach der Besetzung der Krim, von Donezk und Luhansk, in einem Interview:
„Ich habe Hitlers Deutschland überlebt – und ich werde auch Putins Kreml überleben.“

Dr. Anatolij Podolskyj
Ukrainisches Zentrum für Holocaust-Studien, Kyjiw
Jede Spende zählt: Ihre Unterstützung hilft uns, diese wichtige Arbeit fortzusetzen und NS-Überlebenden in der Ukraine weiterhin zu helfen.