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47. Spen­den­be­richt — 15.12.2023

“Am 24. Febru­ar 2022 berühr­te mich das schreck­li­che Wort ‘Krieg’ erneut.”

Vie­le Über­le­ben­de der NS-Ver­fol­gung haben durch den rus­si­schen Angriffs­krieg ihre Häu­ser ver­lo­ren oder muss­ten sie ver­las­sen. Im April 2022 war auch Raisa Tupy­t­sia auf­grund der rus­si­schen Angrif­fe und Bom­bar­die­run­gen gezwun­gen, ihre Woh­nung in Char­kiw zu ver­las­sen, um sich in Sicher­heit zu brin­gen. Sie lebt nun im Gebiet Pere­jas­law.

“Am 24. Febru­ar 2022, im Alter von 77 Jah­ren, berühr­te mich das schreck­li­che Wort ‘KRIEG’ erneut. Ich wur­de wäh­rend des Krie­ges gebo­ren und lebe mei­nen Lebens­abend wie­der wäh­rend des Krie­ges: auf den Kis­sen ande­rer Leu­te, im Haus eines ande­ren… Mögen Krie­ge für immer ver­flucht sein!”.

Das “Hilfs­netz­werk für Über­le­ben­de der NS-Ver­fol­gung in der Ukrai­ne” unter­stützt Raisa durch Spenden monat­lich mit einer Paten­schaft sowie Hilfs­gü­tern wie Decken und Lam­pen für den Win­ter.

“Ich möch­te Ihnen für die Unter­stüt­zung dan­ken. Dafür, dass sie nicht abseits der Pro­ble­me der Men­schen ste­hen, die die schreck­lichs­ten Din­ge durch­ge­macht haben: Krieg, zer­stör­te Woh­nun­gen, gestoh­le­nes Alter.”

Raisa Tupy­t­sia wur­de 1945 gebo­ren, wäh­rend ihre Mut­ter Zwangs­ar­beit auf einem Hof in Öster­reich leis­ten muss­te. Beka­men Zwangs­ar­bei­te­rin­nen Kin­der, so unter wid­rigs­ten Bedin­gun­gen. “Mei­ne Mut­ter arbei­te­te bei einem Land­wirt. Sie wohn­te in den Neben­ge­bäu­den neben dem Vieh. Und Gott weiß, wie es ihr gelang, sich um mich zu küm­mern!”, schreibt Raisa Tupy­t­sia.

Ihre Lebens­ge­schich­te hat die NS-Über­le­ben­de Raisa Tupy­t­sia für das Hilfs­netz­werk aufgeschrieben.

“Febru­ar… ein Monat, der das Herz mit Schmerz durch­dringt…  Ich wur­de am 5. Febru­ar 1945 in Gefan­gen­schaft gebo­ren (Olsen-Dorf, Öster­reich). Aber wie kann man hel­fen, wenn ein Kind in einer feind­li­chen Umge­bung gebo­ren wird, wo man nicht will, dass es lebt, wo sein Schick­sal vor­be­stimmt ist? Wozu ist eine Frau fähig, wenn die Mut­ter­schaft zum Über­le­bens­kampf wird und statt eines Zuhau­ses kal­te Bara­cken, statt einer Wie­ge zer­bro­che­ne Bret­ter ste­hen? Es war sehr schwer für Frau­en, die wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs als Zwangs­ar­bei­te­rin­nen in einem frem­den Land ihre Kin­der zur Welt brachten.

Mei­ne Mut­ter hieß Pala­gia, eine freund­li­che Ukrai­ne­rin mit einem dicken schwar­zen Zopf und blau­en Augen, die nicht wuss­te, was mor­gen mit ihr gesche­hen wür­de. Im Alter von 19 Jah­ren wur­de sie gewalt­sam aus ihrem Haus geholt und mit einem Last­wa­gen in ein frem­des Land gebracht. Dann wur­den sie mit ande­ren Gefan­ge­nen in ein ein­ge­zäun­tes und bewach­tes Lager gebracht. Spä­ter wur­den sie, jung und gesund, meist Mäd­chen, obwohl es vie­le Min­der­jäh­ri­ge gab, über­all zur Arbeit ein­ge­setzt: in gro­ßen Fabri­ken, in der Land­wirt­schaft und in der pri­va­ten Land­wirt­schaft. Mei­ne Mut­ter arbei­te­te bei einem Land­wirt. Sie melk­te Kühe. Sie wohn­te in den Neben­ge­bäu­den neben dem Vieh. Und Gott weiß, wie es ihr gelang, sich um mich zu kümmern!

Raisa Tupytsia und ihre Mutter.
Raisa Tupy­t­sia und ihre Mutter.

Nach dem Ende des Krie­ges kehr­ten wir nach Hau­se zurück. Ich ver­brach­te mei­ne Kind­heit in mei­nem Hei­mat­dorf Kul­ja­biw­ka im Kreis Pere­jas­law in der Regi­on Kiew. Aber sie war nicht sehr glück­lich. Stän­di­ge Demü­ti­gun­gen, Schi­ka­nen durch Gleich­alt­ri­ge, Trä­nen bei mir und mei­ner Mut­ter… Man nann­te uns “Deut­sche” und alle mög­li­chen Schimpf­wör­ter. Das kann ich bis heu­te nicht ver­ges­sen.

Ich wur­de von den Eltern mei­ner Mut­ter, Groß­mutter Motria und Groß­va­ter Myko­la, auf­ge­zo­gen, denen ich immer dank­bar sein wer­de. Im Alter von 9 Jah­ren begann ich zu arbei­ten.  Ich habe Schwei­ne gehü­tet und spä­ter auf einem Bau­ern­hof gear­bei­tet und Kühe gemol­ken. Mei­ne Groß­mutter Motria lieb­te mich sehr. Sie woll­te, dass ich eine Aus­bil­dung erhal­te. Die Fami­lie spar­te Geld für mei­ne Aus­bil­dung. Nach­dem ich acht Jah­re zur Schu­le gegan­gen war, begann ich eine Aus­bil­dung zur Tie­räz­tin. Ich schloss das Stu­di­um erfolg­reich ab und begann zu arbei­ten. Ich behan­del­te mein gan­zes Leben lang Haus­tie­re, bis ich in den Ruhe­stand ging.

Im Jahr 2005 zog ich in die Regi­on Char­kiw. Ich genoss das Leben, mei­ne Kin­der und Enkel­kin­der. Doch am 24. Febru­ar 2022, im Alter von 77 Jah­ren, berühr­te mich das schreck­li­che Wort “KRIEG” erneut. Am 6. April 2022, nach Beschuss, Bom­bar­die­rung, stän­di­ge Ein­schlä­ge und spä­ter zer­stör­ten Woh­nun­gen, beschlos­sen wir alle, umzu­zie­hen. Aber wohin? Wir kamen in das Gebiet Pere­jas­law, wo die Gemein­de ein ver­las­se­nes Haus zur Ver­fü­gung stell­te.

Ich habe ein sehr schwie­ri­ges, kom­pli­zier­tes Leben mit einem Bei­geschmack von Bit­ter­keit geführt. Ich wur­de wäh­rend des Krie­ges gebo­ren und lebe mei­nen Lebens­abend wie­der wäh­rend des Krie­ges: auf den Kis­sen ande­rer Leu­te, im Haus eines ande­ren… Mögen Krie­ge für immer ver­flucht sein! Möge Frie­den herr­schen auf der gan­zen Welt, zwi­schen allen Völ­kern der Erde!

Ich bin dem Hilfs­netz­werk sehr dank­bar für die finan­zi­el­len Zah­lun­gen und die umfas­sen­de Unter­stüt­zung. Dies ist eine gro­ße Hil­fe für mich in einer schwie­ri­gen Zeit! Gott seg­ne Sie, Frie­de sei mit Ihnen allen!”

Unse­re Hil­fe in Zahlen

Wir haben bis­lang mit über 622.900 Euro Spen­den­gel­dern und Dritt­mit­teln in 4186 Fäl­len Über­le­ben­de der NS-Ver­fol­gung über finan­zi­el­le Sofort­hil­fen sowie mit drin­gend benö­tig­ten Hilfs­gü­tern erreicht. 803 Mal konn­ten wir Ange­hö­ri­ge und Fachkolleg:innen unterstützen.

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