Reportage von Lesya Kharchenko

Lidia Fedorivna Aleksandrova, geboren 1937, lebt im Dorf Jewgeniwka im Gebiet Mykolajiw.
Während wir uns dem Garten von Lidia Aleksandrova nähern, hören wir bereits Stimmengewirr. Da sie über die Ankunft von Gästen Bescheid wissen, strömen Verwandte, Nachbarinnen und Freiwillige zu der Frau. Es hat offenbar eine therapeutische Wirkung, in diesem Kreis gemeinsam die Erfahrungen und Erinnerungen zu teilen. Wir sind deshalb bereit, jedem zuzuhören. Lidia fühlt sich wie das Geburtstagskind, weil sie so viele Gäste hat, und sie macht allen klar, dass sie als Erste sprechen wird.
Die schweren Erfahrungen des aktuellen Krieges überlagern die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Doch an einige Episoden erinnert sich Lidia wie kurze Erinnerungsblitze. Zum Beispiel, wie sie sich mit anderen Kindern im Keller versteckte und wie ein Flakgeschoss den Keller traf. Glücklicherweise war der Keller lang und die Kinder waren weit von der Einschlagstelle entfernt. Oder wie sie und ihre kleine Schwester deutschen Soldaten Zucker stahlen und Angst vor Bestrafung hatten. Oder wie einer der Deutschen die jüngste Schwester, die viel weinte, in den Arm nahm und sie mit deutschen Worten beruhigte. Lidias Vater starb als Soldat der Roten Armee am Ende des Krieges in Deutschland. Sie erinnert sich noch an die schreckliche Hungersnot der Nachkriegszeit von 1947, wie sie Wurzeln aß und die Kuh Papier kaute, weil es nichts gab. Sie erinnert sich an einen 13-jährigen Jungen, der vor ihren Augen vor Hunger starb.
Als die Frau von der Hungersnot des Jahres 1947 spricht, kommen ihr sofort Erinnerungen an die Besatzung durch russische Truppen. Sie begann plötzlich. “Es war, als kämen sie vom Himmel, plötzlich, zack, und das ganze Dorf wurde angegriffen, und das war’s, wir waren besetzt.“
Die Freiwillige Tetyana kann sich nicht mehr zurückhalten: „Sie sind nicht einfach so reingekommen, sie sind langsam immer näher gekommen. In der Steppe, jenseits des Flusses, war so ein lautes Summen. Und am 17. März betraten sie das Dorf. Wir waren in einer so schrecklichen Situation, wir fürchteten uns, als sie mit Maschinengewehren kamen – wir rannten weg und versteckten uns. Dann begann der Hunger.“


Gegenseitige Unterstützung und die Hilfe aus Deutschland
Lidia nickt zustimmend. Sie hatte keine Nahrungsreserven. Die Geschäfte waren geschlossen, weil die russischen Besatzer in den ersten Tagen alles mitgenommen hatten. „Wie haben Sie sich gerettet?“ – frage ich. „Wenn die Hilfe aus Deutschland nicht gewesen wären — danke ihnen, grüß sie und umarme sie… mit ihrer Unterstützung haben wir überlebt. Sie gaben uns Essen und Tamara (Anm. Tamara Dyrda – Leiterin der NGO „Vivat“) teilte es unter uns auf. Diejenigen, die nicht aufstehen konnten, die bettlägerig waren, wurden von Freiwilligen besucht, die ihnen Essen brachten. So haben wir überlebt.”
Die Frauen erzählen einander, wie sie sich vor dem Beschuss versteckt haben:
- Ich habe gerade meinen Kopf aus dem Keller gesteckt, da flog eine Rakete über meinen Kopf hinweg. Du möchtest gerade raus, schon wieder zwei, drei Raketen. Und so immer und immer wieder.
- Eine Rakete fiel in meinen Garten.
- Und bei Tanya, einer Nachbarin, ist eine Rakete in der Nähe der Mauer eingeschlagen, da ist jetzt ein schrecklicher Krater. Es blieb kein einziger Schiefer auf dem Haus. Fenster und Türen wurden herausgedrückt.
- Es war furchtbar. Du stehst morgens auf und sammelst Scherben ein.
Achteinhalb Monate lang gab es im Dorf weder Wasser noch Strom, Krankenhäuser funktionierten nicht und ab 18:00 Uhr herrschte Ausgangssperre. Die russischen Besatzer nahmen allen ihre Telefone weg. Und sie gingen von Haus zu Haus und durchsuchten sie. Sie nahmen den Leuten die Autos weg, und wenn das Haus leer war, ohne Besitzer – ließen sie nur kahle Wände zurück.
Ich frage Lidia, ob sie nicht vor der Besatzung fliehen wollte, zu ihren Kindern? Nein, sagt sie, das könne sie nicht, ihre Schwester wohne nebenan mit ihrem Mann, der kaum laufen könne. Es war unmöglich, sie allein zu lassen.
Die Schwester

Hanna Fedorivna Bych, geboren 1939, und Jaroslaw Mychailowytsch Bych, geboren 1938, leben im Dorf Jewgeniwka im Gebiet Mykolajiw.
Der Hof der Schwester grenzt an den Hof von Lidia, sie sind nicht einmal durch einen Zaun getrennt. Hanna Bych, geboren 1939, weicht nicht von der Seite ihres Mannes. Er ist an Demenz erkrankt.
Für Hanna war die russische Besatzung des Dorfes besonders schwer. Zusätzlich zu dem, worunter die anderen Bewohner litten — Mangel an Strom, Wasser, Lebensmitteln, Renten — war sie mit der schmerzlichen Frage nach Medikamenten und Windeln für ihren Mann konfrontiert. Sie mussten ihn mit Lumpen zudecken und Windeln waschen. Während des Beschusses zog sie ihn in den Keller. Sie erzählt:
“Wir sitzen zwei Stunden, ihm ist kalt, obwohl er angezogen ist. Er hat eine Erkältung. Wir hungerten. Meine Tochter aus Mykolajiw hat mehr als einmal eine Tüte mit Lebensmitteln und Medikamenten für uns übergeben, aber sie kamen nie an.”
Die Alten hatten große Angst. Die Frau zeigt die Raketenfragmente, die sie in ihrem Garten gesammelt hat. Wenn sie sich nicht versteckt hätten, wären sie offensichtlich gestorben.
Ihr Ehemann Jaroslaw Bych, geboren 1938, hatte ebenfalls ein schweres Leben. Mit seiner Familie wurde er 1947 aus dem Gebiet Polens in das Gebiet Mykolajiw deportiert, dies geschah im Rahmen der ethnischen Säuberung der ukrainischen Bevölkerung, der sogenannten „Aktion Weichsel“.
Während wir sprechen, schweigt er und lächelt nur. Von Zeit zu Zeit küsst er die Hände seiner Frau und sagt: „Ich danke diesen Händen, die mir geholfen haben …“



Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg
Wegen seiner Krankheit spricht er undeutlich, aber diese Worte sind verständlich. Auch seine Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Sein Vater kam als Soldat der roten Armee im Krieg ums Leben, das Haus brannte nieder, er und seine Mutter und Schwester versteckten sich vor dem Beschuss. „Verdammt“, sagt er. – „Wir haben zwei Kriege überlebt und erinnern uns an alles. Es gab nichts Gutes. Aber ich bin trotzdem glücklich, weil ich sie gefunden habe.“ Er küsst seine Frau erneut und umarmt sie. Sie bringt ihren Mann zu Bett und gemeinsam kehren wir zum Garten ihrer Schwester zurück.
Am Ende des Gesprächs hatte sich fast das halbe Dorf in Lidias Hof versammelt. Sie erinnern sich an die Befreiung des Dorfes, wie sie die ukrainischen Soldaten umarmten, wie sie sie behandelten, lachten und weinten. Das ist die beste Erinnerung an die Zeit des Krieges.

Sie erinnern sich auch an die getöteten und verwundeten Dorfbewohner. Männer, die sich in den ersten Kriegstagen praktisch ohne Waffen für die Verteidigung des Dorfes einsetzten und von den Russen getötet wurden. An die Verwundeten und Getöteten durch Beschuss. An eine von russischen Minen in die Luft gesprengte Kuhherde. Daran, wie ein LKW mit betrunkenen russischen Soldaten ein Auto überfuhr, in dem sich eine Familie mit zwei Kindern befand. An diejenigen, die bereits nach der Befreiung des Dorfes durch Landminen in die Luft gesprengt wurden. An den Wald, der von nun an für viele Jahre vermint und für die Dorfbewohner gesperrt ist. „Und woher haben sie nur diese Minen?“, sagt Lidia, die sich an zwei Hungersnöte und zwei Kriege erinnert.
Während der Besatzungsmonate rückten die Menschen näher zusammen und teilten die letzten Dinge, die sie hatten: Lebensmittel, Medikamente. Die Freiwillige Tanya hatte Kühe und Hühner, sie schenkte den Menschen Milch und Eier.
Auf diese Weise überlebten sie. Das Unglück brachte alle einander näher und machte sie zu Verwandten. Wir reden noch lange mit den Menschen, es ist wichtig für sie alles zu erzählen und kein einziges Detail zu vergessen. Mit der Zeit werden die Zuhörer für sie zu „den Ihrigen“, zu Verwandten und Freunden, zu Menschen, die eine gemeinsame Erfahrung teilen.