Tetya­na Iva­ni­v­na Nepomnyashcha

Repor­ta­ge von Lesya Kharchenko

Tetyana Ivanivna Nepomnyashcha
Tetya­na Iva­ni­v­na Nep­om­nyash­cha / Alle Fotos: © Lesya Kharchenko

Tetya­na Iva­ni­v­na Nep­om­nyash­cha, gebo­ren 1927, lebt im Dorf Jew­ge­niw­ka im Gebiet Mykolajiw.

„Baba Tanya!“ – rufen wir von drau­ßen, wäh­rend wir uns der Haus­tür nähern. Wir öff­nen sie und gehen hin­ein. Baba Tan­yas Bei­ne tra­gen sie nicht mehr und sie sieht nicht mehr gut. Sie sitzt auf ihrem Bett und wen­det ihren Kopf in die Rich­tung unse­rer Stimmen.

“Es ist beängs­ti­gend zu sagen, dass ich schon 1927 gebo­ren wur­de. Doch möch­te ich nicht hun­dert Jah­re alt wer­den, und sei es nur, um jetzt ster­ben zu kön­nen und nicht so zu lei­den. Und da ist auch noch der Krieg.”
Aut­hor Name

Tetya­na Nep­om­nyash­cha erin­nert sich noch gut an den Zwei­ten Welt­krieg. Wie ein Kom­man­deur der Sowje­ti­schen Armee ins Dorf kam und den Dorf­be­woh­nern befahl, Lebens­mit­tel zu brin­gen, denn die Sol­da­ten im Laza­rett waren hung­rig. Die Men­schen füll­ten 16-Kilo­gramm-Ruck­sä­cke mit allem, was sie hat­ten: Mehl, Boh­nen, Grau­pen. Die jun­ge Tetya­na koch­te zusam­men mit ande­ren Frau­en Knö­del und gab den Ver­wun­de­ten Essen. Und dann gab es Kämp­fe, nicht direkt im Dorf, aber dahinter.

- Wir dach­ten, dass so etwas nicht noch ein­mal pas­sie­ren wür­de, doch es ist wie­der Krieg – mein Gott! In jenem Krieg damals war es nicht so schwer wie jetzt.

Tetyana Ivanivna Nepomnyashcha

Die Mona­te der rus­si­schen Besatzung

Als Tetya­na Nep­om­nyash­cha den heu­ti­gen Krieg mit Russ­land erwähnt, wird sie wütend, und muss schließ­lich wei­nen. Sie erin­nert sich an ver­wun­de­te Dorf­be­woh­ner, an zer­stör­te Häu­ser und an von den rus­si­schen Sol­da­ten aus­ge­raub­te Bau­ern. In den ers­ten Kriegs­ta­gen gin­gen alle Fens­ter in ihrem Haus und in den Nach­bar­häu­sern kaputt, teil­wei­se wur­den sogar die Rah­men zer­stört. Die Fens­ter sind jetzt immer noch mit Folie bedeckt. Tetya­na Nep­om­nyash­cha ver­brach­te den Win­ter ohne Strom, er fiel schon in den ers­ten Tagen der Besat­zung aus. Die Hei­zung arbei­te­te nicht und es gab kei­ne Lebens­mit­tel zu kau­fen. Die Geschäf­te waren wäh­rend der Besat­zung nicht geöff­net. Meh­re­re Fami­li­en im Dorf konn­ten nur durch den Umstand vor dem Hun­ger­tod geret­tet wer­den, dass sie auf eige­ne Gefahr nach Myko­la­jiw fuh­ren, um von dort Lebens­mit­tel zu holen.

Tetya­na Nep­om­nyash­cha hat kei­ne Kin­der. In letz­ter Zeit ist es mit ihren Bei­nen beson­ders schlecht bestellt. Selbst das Gehen nach drau­ßen ist für sie schon ein Pro­blem. Sie schleppt sich manch­mal, sich müh­sam an der Wand fest­hal­tend, auf die Veran­da, um fri­sche Luft zu schnap­pen. Unter­stüt­zung erhält sie von einer Sozi­al­ar­bei­te­rin, die unter der Woche jeden Tag zu ihr kommt, das Essen zube­rei­tet, die Woh­nung auf­räumt  und die Wäsche macht.

Yaroslava Khapun zeigt die zerbrochenen Fenster im Haus ihrer Nachbarin Tetyana
Die Nach­ba­rin Yaros­la­va Kha­pun zeigt die zer­bro­che­nen Fens­ter im Haus von Tetya­na Nepomnyashcha.
Nachbarhäuser von russischen Raketen getroffen.
Nach­bar­häu­ser, die von rus­si­schen Rake­ten getrof­fen wurden.

Zusam­men­halt mit der Nachbarin

Die Nachbarin Slava Yaroslava Khapun umarmt Tetyana Ivanivna Nepomnyashcha.
Die Nach­ba­rin Sla­va Yaros­la­va Kha­pun und Tetya­na Iva­ni­v­na Nepomnyashcha. 

Die Tetya­na Nep­om­nyash­cha am nächs­ten ste­hen­de Per­son ist ihre Nach­ba­rin Sla­va (Yaros­la­va Kha­pun, 1949). Die­se kam vor­bei, als sie sah, dass Tetya­na Besuch hat­te. Die bei­den allein­ste­hen­den Frau­en erleb­ten den Beginn des Krie­ges und der Besat­zung gemein­sam und hal­ten seit­dem fest zusam­men. Gemein­sam über­leb­ten sie den Beschuss und ver­steck­ten sich anfangs im Kel­ler der alten Frau, wo sie meist von 4 Uhr nachts und mit Pau­sen bis zum Mor­gen aus­harr­ten. In die­sen Gegen­den gab es kein Luft­alarm­si­gnal, doch der Hund Druz­hok warn­te die Frau­en mit sei­nem Geheul vor dem Beschuss.

Am schlimms­ten war es, als die Nach­ba­rin ver­letzt wur­de. Tetya­na Nep­om­nyash­cha weint, als sie sich dar­an erin­nert. Dann erzählt die Nach­ba­rin Sla­va ihre Geschich­te selbst.

- Ich habe eine Zwie­bel geschnit­ten, als es krach­te. Da bin ich hin­aus­ge­lau­fen, um zu sehen, was pas­siert war. War­um bin ich nur raus­ge­lau­fen? Als es ein zwei­tes Mal krach­te, explo­dier­te das Geschoss im Gar­ten und ich wur­de von Split­tern getrof­fen. Blut. Ich schreie und rufe mei­ne Nach­barn, doch sie haben Angst, unter Beschuss zu mir zu lau­fen.

Sla­va wur­de am Bauch und an der Hand ver­letzt und lag ein hal­bes Jahr im Kran­ken­haus.  Sie zeigt uns die Nar­ben am Bauch, sieht sie als Zei­chen dafür, dass Gott sie geret­tet hat. Als sie sich etwas erholt hat­te, ging sie wie­der zu „Baba Tanya“, die jeden Tag für sie gebe­tet hatte.

“Ich bin für sie wie eine Toch­ter. Wenn ich etwas Schö­nes koche, brin­ge ich es Tetya­na und sie teilt mit mir, was sie hat. Wir sind uns sehr nah. Ich öff­ne ihr Haus mor­gens und schlie­ße es abends wie­der. So leben wir. Wenn nur kein Krieg wäre…

Wäh­rend der acht­ein­halb­mo­na­ti­gen Besat­zung leb­ten die Frau­en in Angst. Auch heu­te noch pas­siert es, dass, wenn etwas klopft, ihnen scheint, dass die Rus­sen kämen oder geschos­sen wür­de. Die Frau­en erin­nern sich an getö­te­te und ver­wun­de­te Dorf­be­woh­ner, dar­an, wie das Auto eines Nach­barn brann­te, an kaput­te land­wirt­schaft­li­che Maschi­nen und Schul­bän­ke, die mit obs­zö­nen rus­si­schen Wor­ten beschmiert wor­den waren.

Die alte Frau erlebt den Krieg beson­ders hart, sie weint oft und betet für die ukrai­ni­schen Sol­da­ten und den Sieg. In ihrem Gar­ten gibt es einen alten Brun­nen, aus dem sie mit Eimern Was­ser schöpft. Die Leu­te im Dorf sagen: Wäh­rend der Besat­zung hat die­ser Brun­nen das gan­ze Dorf geret­tet. Schließ­lich hat­ten alle Dorf­be­woh­ner schon seit lan­gem moder­ne Brun­nen­an­la­gen. Doch wenn es kei­nen Strom gibt, ist es unmög­lich, Was­ser zu bekom­men. Und mehr als acht Mona­te lang gab es kei­nen Strom. Des­halb ver­sorg­te der alte Brun­nen von Tetya­na Nep­om­nyash­cha, der ein­zig ver­blie­be­ne sei­ner Art im gan­zen Dorf, die Men­schen acht­ein­halb Mona­te lang mit Wasser.

Ein Brunnen im Garten.
Der Brun­nen im Gar­ten von Tetya­na Nep­om­nyash­cha ver­sorg­te die Men­schen im Dorf wäh­rend der Besat­zung mit Wasser.

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