Jede Woche telefoniert Anton Model mit seiner ukrainischen Familie im Kriegsgebiet. Eigentlich wuchs er als Sohn eines Winzers im idyllischen Hagnau am Bodensee auf, ohne jede Verbindung zur Ukraine. Als er durch Zufall von seiner Adoption erfuhr, begann eine jahrelange Suche nach seiner ukrainischen Mutter.
„Ich habe viele Freunde und Unterstützer. Ohne sie, wäre es mir nie gelungen, meine Mutter zu finden“, erzählt Anton Model. Um ihn herum sitzen seine Kinder und Enkelkinder. Zu seiner Familie in der Ukraine hatte er bis 1992 keinen Kontakt.
Erste Hinweise auf die Adoption
Anton Model wurde am 31. Dezember 1943 in Markdorf geboren. Als er zwölf Jahre alt war, fand er im Nachttisch seines Vaters eine Taufurkunde und einen Adoptionsvertrag für „Anton Sylvester Taran“. Auf den Dokumenten vermerkt waren Informationen über seine leibliche Mutter: „Warga Taran, geboren 10. Oktober 1926, Ukrainerin“. Anton steckte die Dokumente zurück und erzählte lange niemandem von seinem Fund. Er stand unter Schock und wusste nicht, wie er Kontakt zu jemandem in der Ukraine aufnehmen sollte.
Überlebte Antons Mutter den Zweiten Weltkrieg?
Das Wissen, noch irgendwo auf der anderen Seite des Kontinents eine leibliche Mutter zu haben, ließ Anton Model nicht los. Warum war die junge Ukrainerin in Deutschland gewesen? Hatte sie den Krieg überlebt? Warum hatte sie ihr Kind zur Adoption freigegeben?
Erst viel später, in den 1980er-Jahren, begann er mit seiner Suche. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits geheiratet, selbst Kinder bekommen und den Winzerbetrieb seines Vaters übernommen. „Ich wollte unbedingt alles versuchen, meine Mutter kennenzulernen. Bei sämtlichen Archiven war ich, ich habe sie alle angeschrieben“, erinnert er sich. Die für die damalige Besatzungszone zuständigen französischen Behörden erklärten ihm, dass sie alle Unterlagen an den Internationalen Suchdienst, heute Arolsen Archives, gegeben hätten. So stellte er 1983 seine erste Anfrage und fand die letzte bekannte Adresse seiner Mutter heraus.
Dokumente zu Warga Taran in den Arolsen Archives
Die Arolsen Archives verwahren mehrere Dokumente zur Zwangsarbeit von Warga Taran, der Adoption ihres Sohnes Anton Model, sowie Antons Suche nach seiner Mutter. In der sogenannten T/D‑Akte finden sich alle Anfragen und ihre Antworten, die seit Kriegsende zur Familie Taran beim Internationalen Suchdienst eingingen.
Saisonarbeiter fand Warga in der Ukraine
Doch auch mit der Adresse kam Anton mit der Suche nicht weiter. Im durch den Kalten Krieg geteilten Europa war eine Suche in der Ukraine schier unmöglich. Hilfe bekam Anton dann von einem der Saisonarbeiter, die jeden Sommer auf seinem Weingut arbeiteten. Eines Sommers bot einer von ihnen, Bogdan, an, in seinem Heimatland die letzte bekannte Adresse von Anton Models Mutter zu besuchen. Zurück in der Ukraine, fragte sich Bogdan von Dorf zu Dorf durch, suchte überall nach Warga Taran. Und fand sie schließlich.
Familienzusammenführung nach 50 Jahren
Fast 50 Jahre lang waren Sohn und Mutter voneinander getrennt. Mit Hilfe seines ukrainischen Freundes Bogdan, konnte Anton in den 1990er-Jahren erstmals Briefkontakt zu seiner Mutter in der Ukraine aufbauen. Die Briefe übersetzte Bogdan alle, denn Warga hatte ihre Deutschkenntnisse über die Jahrzehnte verloren.
Die Nationalsozialisten verschleppten Warga zur Zwangsarbeit
Über die Jahre puzzelte Anton Model das Schicksal seiner Mutter zusammen. Die Nationalsozialisten verschleppten die damals 16-jährige Warga Taran zur Zwangsarbeit Deutschland. Zunächst arbeitete sie für die Ordensschwestern am Bodensee, dann auf einem Bauernhof.
„Als bekannt wurde, dass sie schwanger war, wurde sie von zwei Gestapo-Leuten abgeholt, ins Landgerichtsgefängnis in Konstanz gebracht und dort schlimmen Verhören unterzogen. Man wollte unbedingt herausfinden, wer der Vater ist. Aber sie war standhaft und hat es nicht preisgegeben.“
Die Gestapo ließ Warga wieder frei und sie arbeitete fortan als Haushaltshilfe für die Frau des Bürgermeisters in Hagnau. Nach Kriegsende registrierte sie sich als Displaced Person und kehrte in ihre ukrainische Heimat zurück. Doch: Sie verließ Deutschland ohne Anton.
Die NS-Rassenideologie führte zur Zwangsadoption
Bis heute ist widersprüchlich, wie es zur Adoption kam. Warga erklärte Anton: „Ich wollte dich nicht dalassen, aber sie ließen mich dich nicht mitnehmen“. Die offizielle Erklärung der deutschen Behörden war, das Kind sei krank und könne deshalb nicht ausreisen. An diese Version glaubt Anton nicht. Er ist der Meinung, er habe als „arisches Kind“ in Deutschland bleiben und erzogen werden sollen. Die NS-Rassenideologie saß auch nach Kriegsende tief und so zwangen die deutschen Behörden die junge Mutter dazu, ihr Baby zurückzulassen. Das Ehepaar Model adoptierte ihn und gab ihm ihren Namen und eine neue Identität.
Familienzusammenführung nach jahrelanger Suche
1993 war es dann endlich so weit. Antons Freund Bogdan nahm ihn mit in die Ukraine. Im eisig kalten November reisten die beiden zu Warga. „Diesen Tag werde ich nie vergessen, es war überwältigend“, erinnert sich Anton. Jedes Mal, wenn er von seiner Begegnung mit seiner Mutter erzählt, hat er Tränen in den Augen. Als er das erste Mal vor seiner Mutter stand, rief sie „Mein Kind, mein Kind!“ Zu diesem Zeitpunkt war Anton bereits 50 Jahre alt.
Antons zweite Familie in der Ukraine
Nach dem Krieg hatte Warga in ihrer Heimat einen Ukrainer geheiratet und mit ihm drei Töchter bekommen. Im Alter litt sie gesundheitlich an den Folgen der schweren Zwangsarbeit. 2004 starb Warga mit 78 Jahren.
Ob Anton noch Kontakt zu seinen Halbschwestern hat? „Haja, natürlich!“, bekräftigt er, „Ich rufe dreimal die Woche an.“ Seine Halbschwester Tanja spricht Deutsch, sie ist Lehrerin in der Ukraine. Antons Schwestern besuchten ihn schon mehrmals in Deutschland, sie pflegen bis heute ein enges Verhältnis. „Wir haben Tanja auch hierher eingeladen, aber der Schulleiter hat sie darum gebeten, zu bleiben. Er will trotz des Kriegs bald wieder mit dem Unterricht vor Ort beginnen.“
Wie kann man Ukrainer*innen helfen?
Seinen Schwestern geht es nicht gut, sagt Anton: „Das schlimmste sind die Sirenen“. Die Telefonate mit ihnen fallen ihm schwer. „Man fühlt sich ganz schlimm“, erklärt er. Er fühlt sich machtlos, kann nicht mehr tun, als Hilfe anbieten und zuhören. „Die Ukrainer*innen haben einen Überlebenswillen, das ist der Wahnsinn.“
Deportation ukrainischer Kinder
Besonders die Berichte über von Russland verschleppten ukrainischen Kinder erschüttern Anton: „Da denke ich an mein Schicksal, mir ging es ja ähnlich. Ich hoffe, dass die Kinder wieder zurückkehren und mit ihren leiblichen Eltern leben können.“
»Es ist wichtig, dass wir wach bleiben!«
Anton Model, Sohn der ukrainischen Zwangsarbeiterin Warga Taran
Gefahr durch Rechtsextremismus in Europa
Heute besucht Anton häufig Schulen und spricht über sein Schicksal und das seiner Mutter. Den Menschen will er zeigen, welche Konsequenzen Krieg hat. „Was mir große Sorgen macht, sind rechte Parteien, die so viel Zulauf bekommen. Das ist furchtbar. Und wenn man da jetzt nichts macht, jetzt nichts sagt, dann ist die Gefahr da, dass das wieder passiert. Es geht ihnen nur um die Macht. Das ist meine Botschaft an die jungen Leute: Lasst euch nicht verführen von diesen Leuten. Sie bringen nur Elend, Leid und Tod. Das erleben wir ja jetzt mit dem Krieg in der Ukraine. Da muss man wachsam sein. Das beschäftigt mich unwahrscheinlich, dass sie die freiheitliche Ordnung nicht akzeptieren, nicht anerkennen. Es ist wichtig, dass wir wach bleiben!“
Themenseite: Krieg gegen die Ukraine
Am 24. Februar 2022 hat Russland seinen Krieg gegen die Ukraine mit einer massiven Angriffswelle auf das gesamte Staatsgebiet ausgedehnt. Damit ist Europa erstmals seit Jahrzehnten wieder Schauplatz einer großen militärischen Auseinandersetzung mit einer täglich steigenden Zahl von Toten. Die Arolsen Archives informieren regelmäßig über Fakten, Schicksale und historischen Kontext, um fundiertes Hintergrundwissen rund um den Krieg zu vermitteln. Mehr lesen.